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Schaut hin!

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Schaut hin!“ (Markus 6,38). Unter diesem Motto gestalten evangelische und katholische Christinnen und Christen in dieser Woche den 3. Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt. Damit ein Kirchentag unter den aktuellen Bedingungen möglich ist, müssen viele Menschen tatsächlich genau hinschauen: konkret von zuhause aus auf ihre Bildschirme schauen, denn dieser Kirchentag findet überwiegend digital statt. Und in der digitalen Welt ist bekanntlich vieles noch kleiner, versteckter, unsichtbarer, schwerer zu erkennen und zu durchschauen als in der analogen Welt ohnehin schon. Es entbehrt also einer gewissen Ironie nicht, dass ausgerechnet dieser Kirchentag mit seinem Motto erstmals digital stattfindet.

„Schaut hin!“, so klein und verschwommen die Schrift auf dem Plakat zu sehen ist, so überdimensional groß verteilt sich das Kirchentagsmotto – in einzelne Buchstaben zerlegt – über markante Orte der Frankfurter Innenstadt:

„Schaut hin“, fordert das „S“ am Hauptbahnhof seine Passanten auf, „wie vernetzt Frankfurt ist. Überirdisch und unterirdisch. Menschenströme und Datenströme.“

“Schaut hin“, mahnt der Buchstabe „H“ an der Alten Oper, wie stark gerade Kulturschaffende in unserem Land von der Pandemie betroffen sind.

„Schaut hin“, lädt das „A“ an der Paulskirche ein, „auf welchen Grundlagen unsere Demokratie steht.“

„Schaut hin!“ – Es gibt in diesen Tagen in Frankfurt also wirklich viel zu entdecken – digital und dezentral!

„Schau genau hin“, ob diese Worte auch in den Ohren des biblischen Königs Lemuel widerhallten, wenn dieser sich mit seiner Mutter unterhielt? Im Buch der Sprüche, im 4. Kapitel, erscheint Lemuel als Sammler alttestamentlicher Spruchweisheit. Als Quelle dieser Weisheit aber wird seine Mutter benannt, die ihn all dies lehrte: „Dies sind die Worte Lemuels, des Königs von Massa, die ihn seine Mutter lehrte“. Als Monatsspruch für den Monat Mai lesen wir ein solches Wort der Mutter an ihren Sohn, der in Regierungsverantwortung steht: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“ (Sprüche 31,8), lese ich dort.

Lemuels Mutter hat offenbar ein gutes Wahrnehmungsvermögen für die Herausforderungen von Menschen in Machtpositionen, für ihre Situation: zwischen allen Stühlen zu sitzen, hin- und hergerissen zu sein zwischen divergierenden Meinungen, beeinflussbar zu sein durch gesellschaftliche Stimmen und Stimmungen. Und die können sich ja bekanntlich binnen kürzester Zeit wenden: Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. „Hosianna dem Sohn Davids“ und „Kreuzige ihn“.

Was Lemuels Mutter ihrem Sohn mit auf den Weg gibt, sind keine Tipps und Tricks für einen geschickten Machterhalt, für möglichst gute Umfragewerte oder eine verdeckte Postenschacherei zwischen seinen Ministern. Sondern, was sie ihrem Sohn in die Wiege seiner Herrschaft legt, ist ein klarer, unverstellter Blick. Ein offenes Ohr für die lobbylosen Menschengruppen seines Landes. Und den Mut, seine Stimme zu erheben und seine Macht zu nutzen für all die, die von der Öffentlichkeit vergessen, verlassen und ausgeschlossen sind. Lemuels Mutter hat erkannt, dass eine Gesellschaft auf Dauer immer nur so stark ist wie ihre schwächsten Gruppen. Dass das Vergessen und Verlassen von Menschengruppen auf die Dauer gesellschaftliche Spaltungen, Gewalt und Unfrieden für ein ganzes Land mit sich bringen kann.

Ob Lemuels Mutter eine Philosophin, eine Prophetin oder schlicht eine Frau, des Wortes Gottes kundig, war, ist wohl nicht mehr genauer zu bestimmen. Doch schon damals hat sie im Stile der Propheten ihren Sohn gelehrt, was auch in diesen Tagen wieder in Internetforen und Hauptpodien heiß diskutiert wird. Ich würde sie glatt als Referentin zum 3. Ökumenischen Kirchentag einladen!

Ihre Pfarrerin
Katharina Bärenfänger

Mittagsgebet

In der Mitte des Tages komme ich zu dir, mein Gott:
Schauender Gott, wo findest du mich?
Hörender Gott, wie höre ich dich?
Durch all meine Fragen gehst du mir nach
und hältst behutsam die Sehnsucht wach.

Du bist ein Gott, der mich anschaut.
Du bist die Liebe, die Würde gibt.
Du bist ein Gott, der mich achtet.
Du bist die Mutter, die liebt.
Amen

Quelle: Susanne Brandt, 2016 (Text),
Deutscher Evangelischer Kirchentag, #lautstärke

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