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Kreuz – Zeichen der Versöhnung

in den Zeiten des Coronavirus ist vieles nichts mehr, wie es einmal war. Es zeigt sich aber umso deutlicher, was wirklich wichtig ist. Ich bin davon überzeugt, dass es gerade an Karfreitag um etwas geht, was wir unbedingt brauchen: Versöhnung! In drei Geschichten, die letztlich alle miteinander verwoben sind, will ich zeigen, was Versöhnung mit meinem Nächsten, mit mir selbst und mit Gott ist.

Erbarmungslos zerrinnt die Zeit, die ihm noch bleibt. Sie wird immer kürzer und kürzer. Er kann sich die Begegnung schon ausmalen. Den Blick seiner Frau, diesen kalten, geringschätzenden und zugleich verletzten Blick, der ihn erwartet, sobald er die Wohnungstür aufschließt. Vermutlich ist sie schon da, wenn er nach Hause kommt. Er lässt die Hand in die Tasche gleiten und spürt den Schlüssel. Wie eine Mahnung kommt ihm der Schlüssel vor. Er erinnert sich an die unvermeidliche Begegnung. Irgendwann muss er nach Hause kommen, jeder Umweg ist nur ein Aufschub vor dem Unvermeidlichen. Früher oder später muss er sich dem stellen, was ihn dort erwartet. Der Sprachlosigkeit, die zwischen ihm und seiner Frau herrscht. Alles fühlt sich fremd an. Er wird sich dort einsamer fühlen als er es allein je sein könnte. Ein starker Kontrast zur Freundlichkeit und Wärme früherer Tage. Wie sehnt er sich danach, sich mit seiner Frau auszusprechen. Die Schuld beim Namen zu nennen, die zwischen ihnen steht. Und den gegenseitigen Groll hinausschreien, der das Herz schwer macht. Und vielleicht, vielleicht kommt es am Ende zur Versöhnung.

Wie vermisst er das: dass sie sich um den Hals fallen, sich aneinanderschmiegen und sich für eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr loslassen. Er wünscht sich nichts mehr als das: Versöhnung. Dass sie einander wieder gesund sind. Den Groll loslassen und die Schuld überwinden. Versöhnung! Schon das Wort hat die Kraft, die trüben Gedanken aufzuhellen. Als würden in diesem einen Wort viele andere große Worte zusammenkommen: Vergebung, Neubeginn, Heilung, Hoffnung. Versöhnung klingt nach einer neuen Chance, nach neuem Leben: Das Alte ist vergangen.

Erbarmungslos zerrinnt die Zeit, die noch bleibt. Der Weg hinauf nach Golgatha, zur Hinrichtungsstätte. Schritt für Schritt geht Jesus den Weg. Das Kreuz lastet auf seinen Schultern und drückt ihn zu Boden. Er spürt, wie die Kräfte ihn verlassen und er zu taumeln beginnt. Die Soldaten sind unerbittlich. Sie reißen ihn voran, sobald er strauchelt. Sie lassen ihn das Kreuz tragen, das Folterwerkzeug. Die Zeit verrinnt unter Schlägen und Flüchen. Es ist fast eine Erleichterung, dass der Weg ein Ende hat. Was mag Jesus denken in seinen letzten Stunden? Was geht ihm durch den Sinn? Muss er an den Statthalter denken, wie er sich die Hände wäscht, um sich von seiner Schuld reinzuwaschen? Hat er Angst vor den Hammerschlägen, mit denen er gleich ans Kreuz genagelt wird?

Was Jesus denkt, als er den letzten Weg geht, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er ohne Groll hinauf nach Golgatha geht, zur Hinrichtungsstätte. „Vater, vergib ihnen“, sind einige seiner letzten Worte. Vergib denen, die Unrecht tun, die mich verspotten, anklagen, verurteilen und hinrichten. Keinen Groll hegen. Auch den Feind mit den Augen der Liebe ansehen. Die Schuld nicht wieder und wieder nennen. Verfehlungen niemandem dauernd unter die Nase reiben. Sie nicht als Machtinstrument gebrauchen, um das schlechte Gewissen immer weiter zu nähren. Sondern den Schuldigern vergeben, einfach vergeben. So ist Versöhnung. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Erbarmungslos scheint dem Augustinermönch Martin Luther die Zeit zu zerrinnen, die ihm noch bleibt. Er ist noch jung. Aber kann er nicht jeden Moment aus dem Leben gerissen werden? Ein Blitzschlag hatte ihm doch gerade erst gezeigt, wie schnell es mit seinem Leben vorbeisein kann. Und dann? Dann würde Bilanz gezogen über sein Leben. Dann würde er Bilanz ziehen: Gott. Der junge Augustinermönch sehnt sich nach dem gnädigen Gott. Aber noch kennt er Gott nur als strengen Richter. Unerbittlich springen Martin Luther bei seinen Studien zwei Wörter ins Auge, treiben ihn um und quälen ihn: „Gerechtigkeit Gottes“. Ja, denkt der junge Mönch, Gott ist gerecht. Aber weil er gerecht ist, fordert er auch Gerechtigkeit. Gerechtigkeit Gottes – zwei unerbittliche und unbarmherzige Worte, wie ihm scheint. Sie verfolgen Luther, wenn er betet, wenn er arbeitete, wenn er studiert. Auch beim Essen und vor allem vor dem Einschlafen. Sie verfolgen ihn, bis er diese beiden Worte zu hassen beginnt. Wie kann er Gott lieben, der von ihm die Gerechtigkeit fordert, die er nicht einmal als Mönch zu leisten imstande ist?

Luther zermartert sich selbst, jedes Wort legt er auf die Goldwaage, jede Begegnung, jeden Gedanken. Immer verzweifelter ringt er mit den beiden Worten „Gerechtigkeit Gottes“. Und dann die große Wende. Das neue Verständnis: Hinter diesen Worten steht nicht Gott als der gerechte Richter, der nach einem strengen Maßstab zu Gericht sitzt. Die beiden Worte meinen nicht die Gerechtigkeit, die Gott von uns Menschen fordert. Sondern sie stehen für die Gerechtigkeit, die Gott schenkt – frei und gütig, voller Gnade. Gerechtigkeit als Geschenk, also gratis. Die Gewissensplagen, die innere Not, der Groll auf Gott – alles ist vorbei in einem Moment der Erleuchtung. Ja, es ist schon alles getan. Die ersehnte Versöhnung gibt es längst. Versöhnung, die Gott schenkt. So ist Versöhnung.

Versöhnung statt Erbarmungslosigkeit. Wo Versöhnung ist, da gibt es keine erbarmungslos tickende Uhr. Da führt der Weg nicht zur Anklage, zu lauten oder stillen Vorwürfen. Wo Versöhnung ist, da sind sich zwei wieder gut. Paulus macht die Versöhnung so groß, dass sie von aller Welt gesehen werden muss – ein Zeichen für die Welt. Er schreibt: Das Wort der Versöhnung ist aufgerichtet.

„Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu“ (2. Kor 5,19).

Versöhnung ist wie eine Statue, die bis hinauf in den Himmel reicht. Sie ist das Schlüsselwort des Lebens im Himmel und auf Erden, im Großen und im Kleinen. Und hinter diesem Wort steht Gott. Er ist der große Versöhner und er war in Christus, als der die Worte sprach: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Das sind keine hehren und erst recht keine leeren Worte. Hier wendet sich die Geschichte. Und die Geschichte Gottes mit uns Menschen. Was dort geschieht, ist Versöhnung. Wo denen vergeben wird, die nicht wissen, was sie tun: den Menschen hinzurichten, der wahrlich Gottes Sohn ist. Jesus blickt auf seine Feinde mit den Augen der Liebe und versöhnt sich mit ihnen, bevor er stirbt. Sie wissen ja nicht, was sie tun.

Und so wird das Kreuz von Golgatha zum Zeichen aller Zeichen, zum Symbol aller Versöhnung. Und es durchkreuzt, was ich bisher über Versöhnung gedacht habe. Meine Vorstellung wird gesprengt, wie sich zwei Seiten versöhnen, sich vergeben oder verzeihen. Eigentlich setzt jede Versöhnung etwas voraus – so denke oder handele ich. Ob im Privaten oder im Öffentlichen dürfen Fehltritte nicht ohne Folgen bleiben – so tickt die Welt. Schuld muss eingestanden werden, bevor es zur Versöhnung kommt. Und vor allem: Um Versöhnung muss gebeten werden. Darum ist Versöhnung so schwer. Darum bleibt sie ein Sehnsuchtswort für den Mann auf seinem Weg in die gemeinsame Wohnung. Versöhnung müssen ja immer beide wollen. Solange nur einer sich versöhnen will, bleibt die Sprachlosigkeit bestehen. Und die anklagenden Blicke.

Versöhnung geht nur zu zweit. Nur dann sind sich beide auch wieder gut. Doch bei Gott ist Versöhnung anders. Ganz anders. Und ganz unerwartet bittet Gott selbst um Versöhnung. Oder besser gesagt: Gott lässt mich bitten, die Versöhnung anzunehmen und mich versöhnen zu lassen. Die Reihenfolge wird umgedreht. Nicht erst Schuld, dann Reue und Sühne und dann schließlich Versöhnung. Sondern Versöhnung zuerst und von unerwarteter Seite. Gott, den ich um Versöhnung anflehen müsste, bittet mich, ich möge mich mit ihm versöhnen lassen.

Der junge Mann steckt den Schlüssel ins Schloss. Er ist jetzt da, steht vor der Wohnung. Mit bangem Herzen öffnet er die Tür. Vorsichtig. Was mag sich dahinter verbergen? Ist seine Frau schon zu Hause? Vielleicht hat sie ja auch einen Umweg gemacht, um die Zeit der Begegnung zu dehnen. Oder ist sie fort? Für immer gegangen? Wie würden sie sich begegnen? Würde sie ihn weiter ignorieren? Aber kaum ist die Tür offen, ist sie schon bei ihm. Sie nimmt ihn in den Arm. Sie schmiegt sich an ihn. Die Worte kommen wie von selbst, sprudeln hinaus. Keine Anklage, sondern Worte der Liebe zuerst.

Das Alte ist vergangen. Neues ist geworden. Und dann kann auch von der Schuld gesprochen werden, von Verletzung, aber auch von Verzeihen und vor allem von Versöhnung. Sie sind sich wieder gut. Gegenseitig. Aller Groll ist überwunden. Stattdessen: Vergebung, Neubeginn, Heilung. Das hochaufgereihte Wort von der Versöhnung wirft einen hellen Schatten auf das junge Paar. Die Spirale von Schuld und Beschuldigung ist durchbrochen und durchkreuzt. Das Alte ist vergangen und Neues geworden. So ist Versöhnung.

Bleiben Sie behütet!

Ihr
Bernd Schminke
Rodenbach, Karfreitag 2020

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