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Das geknickte Rohr wird er nicht brechen

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Stadt-Sommer-Kassel“ – Dieses Jahr findet er wieder statt.

Ein junger Mann, wohl Mitte/Ende 20, schleicht auf dem Friedrichsplatz zwischen den kulturbegeisterten Gästen in ihren Liegenstühlen auf und ab. Hin und wieder taucht er wie ein Geist in ihrem Gesichtsfeld Richtung Open-Air-Bühne auf. Den Blick gesenkt. Kopf und Schultern hängen schlaff herunter. „Wie ein geprügelter Hund!“, schießt es mir durch den Kopf.

Während der junge Mann um meine Pfandflasche bittet, bleibt er den Regeln konform auf Abstand. Die Szene wirkt grotesk. Ich werde an die Verbeugung eines Dieners erinnert, als er versucht, auf Distanz hin nach meiner Pfandflasche zu greifen, die ich ihm reiche. „Da steht einer derzeit nicht auf der Sonnenseite des Lebens“, denke ich.

Manchmal begegnen wir Menschen, denen wir auf den ersten Blick ansehen, wie geknickt sie sind. Ihre Augen matt. Die Haare wirr. Der Gang schlurfend und schleppend. Sie passen nicht so recht in ihre Umgebung. Stören das schöne Ambiente und das Gefühl einer zauberhaften Sommernacht ohne Sorgen und ohne jeden Makel. Inmitten der bunten Bühnenlichter fehlt ihnen so ganz und gar das Leuchtende, das Lebendige, das Hoffnungsfrohe. Wo eine Flamme lodern und ein Licht in ihren Augen funkeln sollte, da erinnert ihr gesamtes Auftreten an nicht mehr als an ein mattes Glimmen, ein schattenhaftes Dasein.

Gewohnheitsmäßig werden wir bei solchen Begegnungen nun die Kategorien „Depression“ oder „Alkoholismus“, „Drogenabhängigkeit“ oder „Obdachlosigkeit“ aus dem Hut ziehen. Mit diesen Kategorien fällt es uns dann leichter, uns nicht zuständig fühlen zu müssen. Denn in solchen Fällen läuft nachhaltige Hilfe tatsächlich zumeist ausschließlich über professionell ausgebildete Helferinnen und Helfer.

Doch befreien wir uns einmal von unserem perfektionistischen Helfersyndrom und hören unserem Gegenüber einige Minuten lang zu, einfach so – einfühlsam, ohne Änderungswünsche oder Veränderungsdruck –, dann hören wir zuweilen Geschichten. Geschichten, die Spuren hinterlassen haben in den Augen, in der Haltung, in dem Gesundheitszustand meines Gegenübers. Etwas ist aus der Balance geraten. Leib und Seele finden keinen Gleichklang mehr. Etwas ist geronnen. Erstarrt. Im schlimmeren Fall sogar zerbrochen.

Manchmal erzählen uns Menschen dann von ihren Träumen. Von quälenden Wiederholungsträumen, ins Bodenlose zu stürzen. Alpträume, zu scheitern und eine Prüfung nicht zu bestehen. Angstträume, von Wassern ergriffen und fortgerissen zu werden. Manchmal werden sie in Träumen von einem Unbekannten verfolgt. Und manchmal wittern sie hinter all diesem Gott, der sie straft, verlassen hat, vom Boden tilgen und ihr Leben auslöschen will.

Darum ist es so kostbar zu hören, was der Prophet Jesaja von Gott und seinem Bevollmächtigten zu berichten weiß: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“ (Jesaja 42,3a). Hinter den Niedermachern und Gespenstern unseres Lebens, unserer Tage und nächtlichen Alpträume, hinter den Zerstörern und Angstmachern steht nicht ein Gott, der uns zudem kleinmachen, zu Boden ringen und auslöschen will. Nein, sondern in Jesus steht Gott auf der Seite der Geknickten und der fast schon Erloschenen. Auf der Seite derer mit dem hängenden Kopf und den fallenden Schultern. Auf der Seite derer mit all den Geschichte, die das Leben ihnen in die Gesichter gegerbt und auf den Buckel aufhuckelt hat. In Jesus steht Gott auf ihrer Seite, um das Gekrümmte in ihnen aufzurichten, das Eingetrübte aufzuhellen, den Schmerz und den Hass zu überwinden, der sich immer weiter aufgestaut hat und ihnen die Luft zum Atmen nimmt.

Menschen, die Jesus begegnen, berichten von Veränderungen. „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“, so die Worte eines Mannes aus Galater 2, Vers 20, der diesen Transformationsprozess der Liebe Jesu am eigenen Leib erfahren hat.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche
Ihre Pfarrerin Katharina Bärenfänger

Mittagsgebet

Sehen können, was kein Auge sieht.
Hören können, was das Ohr nicht hört.
Spüren, dass da etwas ist –
noch nicht da, doch schon nah.

Herr, erbarme dich!

Träumen können, mehr als einen Traum.
Glauben können, was unglaublich schien.
Spüren, dass da etwas ist –
noch nicht da, doch schon nah.

Herr, erbarme dich!

Heilen können, was unheilbar galt.
Teilen können, weil’s für alle reicht.
Spüren, dass da etwas ist –
noch nicht da, doch schon nah.

Herr, erbarme dich!

Hoffen können, auch in tiefster Nacht.
Leben können, hier und jetzt und dort.
Spüren, dass da etwas ist –
noch nicht da, doch schon nah.

Herr, erbarme dich!

(Gebet nach dem Lied „Sehen können“, EG+ 3)

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