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Singen

Wo Menschen sich vergessen,
die Wege verlassen,

und neu beginnen, ganz neu
da begegnen sich Himmel und Erde,
dass Friede werde unter uns …

Liebe Leserinnen und Leser,

das Singen fehlt mir. Gerade summe ich mit: „Wo Menschen sich verschenken, die Liebe bedenken …“ Ich bin kein begnadeter Sänger und kein Chor-Mitglied, aber mir fehlt das Singen, besonders am Sonntagmorgen in der Kirche. Mir gefällt die schöne Orgelmusik oder ein bewegender Sologesang, trotzdem fehlt etwas.

Predigt und miteinander einstimmen in neue und alte Lieder sind für mich die Kernpunkte des evangelischen Gottesdienstes. Drum feiern wir jetzt Andacht, solange wir nur hören können. Wir sind still, mit unseren Gedanken bei uns. Die Gemeinschaft kommt zu kurz, wie so oft in dieser Pandemie.

Am 2. Mai feiern wir den Sonntag „Kantate“, da wird mir die Lücke besonders bewusst. „Singt dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder.“ So beginnt der 98. Psalm, der diesem 4. Sonntag nach Ostern den Namen gibt.

Vielleicht denke ich aber zu kurz mit meiner Sehnsucht nach dem gemeinsamen Gesang. Singen ist mehr. Eine Skulptur von Ernst Barlach hat mich ins Grübeln gebracht. „Der singende Mann“, eine Bronze-Figur aus dem Jahr 1928 (Foto: Rufus46, wikimedia.org). Da sitzt ein Mann auf dem Boden, sein linkes Bein untergeschlagen. Er trägt ein weit fallendes Gewand. Mit beiden Händen umfasst er das rechte mit dem aufragenden Knie und hält sich so im Gleichgewicht. Alle Körperlinien streben zum Kopf.

Die Augen geschlossen, den Mund zum Singen geöffnet, ist er in sich versunken, lauscht in sich hinein. Es sind dieses für Barlachs Figuren typischen Gesichtszüge, die den Singenden völlig gelöst und konzentriert erscheinen lassen. Hingegeben an den Gesang, öffnet dieser Mensch sein Innerstes. Die befreiende Wirkung der Musik schafft Gelassenheit und Freude. Hier ist jemand ganz bei sich und zugleich ganz wo anders. Wir haben Teil an einer zutiefst berührenden „menschlichen Situation in ihrer Blöße zwischen Himmel und Erde“, wie es Ernst Barlach selbst formuliert hat.

Es braucht weder den kunstvollen, vielstimmigen Chor, noch die Gänsehautmomente einer gemeinsamen Hymne, um von der Musik ergriffen zu werden. Dieser Mensch singt nach innen. Und wenn ich ihn ansehe, singe ich innerlich mit. Wer so singt, muss sich keine Gedanken um Ansteckung und Aerosole machen. Barlachs Figur lehrt mich, diesen Gesang nach innen wertzuschätzen.

Welches Lied er singt, welche Erinnerungen ihn leiten, welche Melodie ihn trägt, weiß ich nicht. Aber ich spüre: Wie er dasitzt, erlebt er eine Gottesstunde. Es geht jetzt nicht um Soll und Haben, nicht um Mühe und Arbeit, nicht um Haschen nach Wind. Jetzt, jetzt ist er ganz bei sich und so ganz bei Gott. Losgelöst und konzentriert zugleich, hingegeben an sich und den nahen Gott.

Ernst Barlachs Werk ist eine Einladung, die Freude zu entdecken. Für mich verschmelzen hier Lebensfreude und Gottesfreude zu einem inneren Lobgesang. Diese Erfahrung möchte ich mitnehmen in unsere Andachten am Sonntag und mit Ihnen teilen. Lassen sie uns miteinander nach innen singen.

Bis dahin: Bleiben Sie behütet!
Ihr Pfarrer Heinrich Schwarz

Mittagsgebet

Wo Menschen sich vergessen,
die Wege verlassen,
und neu beginnen, ganz neu …

Wo Menschen sich verschenken,
die Liebe bedenken,
und neu beginnen, ganz neu …

Wo Mensch sich verbünden,
den Hass überwinden,
und neu beginnen, ganz neu …

… da berühren sich Himmel und Erde,
dass Frieden werde unter uns,

da berühren sich Himmel und Erde,
dass Frieden werde unter uns.

Thomas Laubach

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