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Krummes Holz

Nun müssen wir nicht mehr über die bayrische Grenze nach Michelbach rüber, um mal einen Weinstock aus der nähe anzusehen. Er wächst jetzt auch in unserem Kirchgarten. Hier können Sie lesen, warum er bei uns gepflanzt wurde. Bis er Früchte bringt, wird es aber wohl noch eine ganze Weile dauern.

Die Früchte des Weinstocks sind immerhin in unserer Kirche zu sehen. Die Kanzel schließt ab mit einer symbolischen Weintraube, und in den Brüstungsmalereien finden wir Reben und Trauben wieder. Starke Symbole des Glaubens an Jesus, der sich selbst mit einem Weinstock vergleicht. Im Johannes-Evangelium, Kapitel 15, Vers 5 spricht er: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun“.

Aber was ist das überhaupt für ein Gewächs, das für unseren Glauben eine so große Rolle spielt? Ein Blick auf unseren Weinstock zeigt, was für ein seltsam knorriges Gewächs es ist, verdreht und hässlich, ziemlich unansehnlich. Besonders im Winter ist an einem Weinstock nichts dran, was eines Blickes wert wäre oder seinen wahren Wert erkennen ließe. Schwarz und tot steht er da – krummes Holz.

Aber eben aus diesem krummen Holz sprießen die Rebe, sozusagen seine Äste, aus denen die Blätter hervorgehen und die Blüten, die dann im Laufe des Sommers in den Herbst hinein zu Weintrauben heranwachsen, zu den Früchten des Weinstocks.

Mit einem solch krummen Holz vergleicht sich Jesus: „Ich bin der wahre Weinstock“ und „Ihr seid die Reben“. Hinter diesem Satz steckt gleichermaßen eine unwahrscheinliche Bescheidenheit wie ein unerhörter Anspruch:

Er ist der wahre Weinstock. Er schenkt Leben. Gegen alle anderen, die den Anspruch haben, den Heilsweg zu wissen, stellt er sein Leben: Seht her, hier zeigt sich der Weg zum Leben. Nur ein solches Leben bringt Frucht. Nur aus ihm heraus wachsen wir Reben und tragen Frucht. Ohne ihn sind wir wie dürres Holz, abgebrochene Zweige.

Klingt anmaßend? Religionskritiker*innen wittern die Gefahr der religiösen Intoleranz. Doch Jesus inszeniert sich nicht als autoritärer Führer, der andere niedrig hält, um selbst die Macht zu genießen. Sein Weg führt nicht steil nach oben zur Herrschaft. Ganz im Gegenteil endet sein Leben mit der Hinrichtung am Kreuz von Golgatha. Sein Leben wird abgeschnitten wie dürres Holz.

Das Bild vom Weinstock und den Reben ist eine Zumutung für den Glauben. Paradox, aber so bekommt Leben eine neue Perspektive. Wir müssen uns nicht mehr an das klammern, was uns in dieser Welt vorgeblich Sicherheit gibt: Wohlstand und Wachstum, Jugend, Erfolg und Arbeit.

Wirklich leben heißt: Ja sagen können zum Leben, trotz aller Schwierigkeiten und Probleme. Es heißt auch; nicht vor den Schwierigkeiten davonlaufen. Wenn ich Mist gebaut habe, muss ich keinen Sündenbock suchen, dem ich das alles in die Schuhe schieben kann. Ich kann dafür Verantwortung übernehmen und um Verzeihung bitten. Umgekehrt kann ich einem Freund die Hand reichen, der mich verletzt hat. Geknickte Stellen haben wir alle, aber dies heißt nicht, sich mit Unrecht, Unterdrückung und Gewalt abzufinden. Dort, wo Menschen ihr Recht auf Leben beschnitten wird, kann ich den Mund aufzutun, beten und handeln.

Wirkliches Leben gelingt nicht aus mir selbst heraus. Allein auf mich gestellt habe ich nicht die Kraft dazu. Den Mut für die Zukunft spüre ich nur, wenn mir als Rebe Kraft aus dem Weinstock des Lebens zufließt. Daran erinnert uns der Weinstock, der nun in unserem Kirchgarten hoffentlich einmal Frucht bringt: Verstehen lernen, dass unsere Kraft gegen die Alltäglichkeit zu leben nicht aus uns selbst kommt. Es ist Gottes Kraft – und wir brauchen dazu die Verbindung des Glaubens – wie die Rebe den Weinstock.

Bleiben Sie behütet!
Ihr Pfarrer Heinrich Schwarz

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