Ich bin ein Gast auf Erden
Es ist Sommerzeit. Urlaubszeit. Noch vor wenigen Wochen war an Urlaubsfahrten nicht zu denken, doch nun bin ich tatsächlich zu Gast in meinem geliebten Urlaubsort an der Ostsee. So, wie schon viele Sommerwochen meines Lebens von Kindesbeinen an. Es ist für mich immer ein bisschen auch „nach Hause kommen“. In der Ferne sein und trotzdem zuhause – gerade darin besteht für mich ein Reiz. Insgeheim danke ich den Menschen in Schleswig-Holstein, dass sie sich auch in diesem Jahr, auch unter den veränderten Umständen, auf uns als Feriengäste einlassen, uns willkommen heißen. Was werden wir ihnen bringen? Hoffentlich ein bisschen Normalität und Lebensfreude zurück in ihren Alltag, hoffentlich einige herzliche Begegnungen und ein paar Geschichten aus unserer Heimat – und hoffentlich natürlich auch einige Einnahmen für die kleineren Geschäfte und Hofläden hier an der Küste. Hoffentlich werden wir ihnen keine Gefahr, keine steigenden Fallzahlen bringen und vor allem keine Sorge vor einem erneuten, regionalen Lockdown. Chancen und Risiken – beides gehört zum Gastsein und zum Gastgebersein mit dazu. Neben mir auf dem großen Parkplatz hinter dem Deich parkt ein Auto mit dem Kennzeichen „GÖ“ für Göttingen und eines mit „GT“ für Gütersloh – merkwürdig, auf was ich in diesem Jahr so achte, denke ich intuitiv.
Im Strandkorb lese ich den Bibeltext für den Sonntag nach meinen Ferien, an dem ich wieder predigen werde: „Bleibt fest in der brüderlichen Liebe“, lese ich dort im 13. Kapitel des Hebräerbriefes. „Gastfrei zu sein, vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Eine Dimension von Gastfreundschaft erlebe ich gerade hier in meinem Urlaubsort. Bis in welche Dimensionen dieser Bibelvers aber tatsächlich hineinreicht, wird mir durch meine Urlaubslektüre bewusst. Ich lese das Buch „Aschenblüte“, die Erzählung einer jungen Frau aus Ruanda, die 1994 den Völkermord der Hutu an den Tutsi überlebt. Die Sicherheitslage spitzt sich auch in ihrem kleinen Heimatdorf Mataba im Westen Ruandas dramatisch zu. Kurz bevor ihr Vater, ihre Mutter und ihre beiden Brüder zusammen mit den übrigen Dorfbewohnern dem grausamen Gemetzel ihrer Killer zum Opfer fallen, schickt ihr Vater seine Tochter zu einem – nun feindlichen – Hutu-Pastor in dem Vertrauen: „Geh zu Pastor Murinzi. Ich bin sicher, er wird dich verstecken, […].“
Ohne seine eigene Familie einzuweihen, gewährt der Pastor unter Lebensgefahr zuerst sechs, später acht Tutsi-Frauen und -Kindern Zuflucht in einem winzigen Toilettenraum in seinem Haus, dessen Eingang von einem großen Schrank verdeckt wird. Alle paar Tage rückt der Pastor nachts den großen Schrank zur Seite, um die Versteckten mit Essensresten und Wasser zu versorgen. Nahezu bewegungslos aufeinander gestapelt harren die acht Frauen und Kinder in diesem winzigen Toilettenraum aus – für die Dauer von 3 Monaten! Der Pastor selbst ist mehrfacher Vater. Immer wieder überfallen ihn schreckliche Zweifel an dem, was er tut. Der feindseligen Propaganda der Medien, die mit Verschwörungstheorien versuchen, die Hutu gegen ihre Tutsi-Nachbarn aufzuwiegeln und zu einem der weltweit größten und grausamsten Völkermorde anzustacheln – dem Einfluss dieser Propaganda kann auch er sich nicht gänzlich entziehen. Beherbergt er am Ende Kinder von Rebellen? Ehefrauen von Feinden? Aber inmitten seiner Zweifel, seiner eigenen ideologischen Verwirrung, bleibt er bei dem schlichten Grundsatz der Bibel: „Gastfrei zu sein, vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“ (Hebräer 13, 2). Und er bleibt bei den Worten von Jesus: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40).
Immaculée Ilibagiza, die junge Frau aus Ruanda, überlebte dank der Gastfreundschaft des Hutu-Pastors Murinzi die Monate des Mordens. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in den USA und arbeitet bei den Vereinten Nationen. Der von ihr gegründete Charitable Fund LEFT TO TELL, „Übrig, um zu erzählen“, kümmert sich um verwaiste Kinder aus afrikanischen Kriegsgebieten.
Bleiben Sie behütet!
Ihre Pfarrerin Katharina Bärenfänger